Antisemitismus

v Juden im Altertum v Juden und Christen v Neuzeit

Der Begriff Antisemitismus wurde 1879 von W. Marr geprägt. Er bezeichnet die Diskriminierung [Benachteiligung] und Verfolgung der Juden allein aufgrund ihrer Abstammung und Religion. Es handelt sich also um eine spezielle Form des Rassismus. Der Begriff Antisemitismus ist insofern etwas unscharf, als die Juden nicht das einzige semitische Volk sind.

Juden und andere semitische Völker

Die Juden (auch Hebräer oder Israeliten gennant) sind ein Volk, das kulturgeschichtlich zusammen mit den Arabern (ihren heutigen Erzfeinden) eine Gruppe bildet, deren Sprachen grosse Ähnlichkeit aufweisen, sich aber von anderen, etwa den europäischen, afrikanischen oder ostasiatischen Sprachen stark unterscheiden. Die Einteilung der Sprachen in solche Sprachfamilien ist für das Verständnis der einzelnen Sprachen und der dahinter stehenden Kulturen sehr nützlich, wurde aber leider in der Geschichte häufig missbraucht, um Menschen nur ihrer Herkunft willen zu diskriminieren [benachteiligen] oder gar zu verfolgen. Wenn von Antisemitismus im europäischen Kulturkreis (Europa und Nordamerika) gesprochen wird, dann meint man damit die Diskriminierung bzw. Verfolgung von Juden.


v Geschichte der Juden im Altertum
v Geschichte der Juden unter römischer Herrschaft v Zum Beginn

Mit dem Glauben an einen einzigen Gott (Monotheismus) waren die Juden ihrer Zeit weit voraus. Dies wurde ihnen in der Auseinandersetzung mit den machtbesessenen Römern zum Verhängnis. Weil die Römer verlangten, dass die Herrschaft des römischen Kaisers auch durch die Teilnahme an religiösen Veranstaltungen (Kaiserkult) anerkannt werde, kam es zu zwei bewaffneten Aufständen: Die Römer zerstörten den jüdischen Tempel (66 n. Chr.) und verbannten die Juden aus ihrer Heimat Israel (135 n. Chr.). Seither leben die Juden in der Diaspora [griechisch: Zerstreuung] in den Ländern des Nahen Ostens und Europas, viele wanderten mit den europäischen Siedlern auch nach Amerika aus.

Juden und Christen

Die Christen, ursprünglich eine kleine Sekte [Splittergruppe] innerhalb der jüdischen Religionsgemeinschaft, zerstritten sich mit der Mehrheit des jüdischen Volkes nicht zuletzt in der Frage, welche Haltung man den Heiden [Ungläubigen] gegenüber einnehmen solle. Man versteifte sich immer mehr auf die unterschiedlichen Auffassungen und verlor dabei das Gemeinsame (gegenüber der heidnischen Umwelt und inbesondere dem römischen Staat) aus den Augen. Dieses Erbe prägte und belastete nun das Verhältnis von Juden und Christen in Europa während zwei Jahrtausenden.



Die Juden in Europa: Mittelalter und frühe Neuzeit

Bis in die Neuzeit hinein zeigten die Juden - trotz aller Diskriminierungen - keine Lust, ihren Glauben und ihre religiös begründeten Bräuche aufzugeben. Wenn man sich vor Augen hält, wie wenig von der Kultur und Sprache der einst über ganz Europa verbreiteten Kelten übrig geblieben ist und wie die germanischen Franken - obwohl sie als Eroberer nach Frankreich kamen - die eigene Sprache und Religion aufgaben, dann erscheint das Überleben der jüdischen Religion und Kultur als ausserordentlicher Sonderfall. Umgekehrt ist zu beachten, dass das Christentum durch das ganze Mittelalter hindurch und bis weit in die Neuzeit (Mitte des 20. Jahrhunderts) stark mit vorchristlichen magischen Vorstellungen durchsetzt blieb. Es gab also für die Juden gute Gründe, an der aus dieser Sicht höher entwickelten und klareren eigenen religiösen Kultur festzuhalten. Keine Berührungsängste zeigten sie hingegen den modernen Wissenschaften gegenüber, unter den bedeutenden europäischen und amerikanischen Wissenschaftlern ist der Anteil der Juden sogar höher als ihrem Bevölkerungsanteil entsprechen würde.

Rechtliche Einschränkungen

Den Juden wurde weder Landbesitz und Ackerbau noch die Ausübung eines Handwerks erlaubt. Andererseits hielt die Kirche lange Zeit Geldgeschäfte für unmoralisch und erliess für Christen ein Verbot der Geldausleihe gegen Zinsen (ein solches gilt übrigens im Islam bis heute). Somit konnten sich Juden nur in Dienstleistungsberufen in den Städten betätigen, z.B. als Händler, Bankiers und Ärzte. In der landwirtschaftlich ausgerichteten Gesellschaft des Mittelalters war dies nicht nur eine starke Einschränkung, sondern zunächst auch mit geringer Wertschätzung verbunden. Allerdings erlebten gerade diese Bereiche ab dem Spätmittelalter einen starken Aufschwung, Neid war damit vorprogrammiert. War ein jüdischer Arzt zu erfolgreich, so versuchten seine nichtjüdischen Konkurrenten, ihn durch Gerüchte und haltlose Vorwürfe auszuschalten (so 1539 in Schaffhausen).

Vorurteile, abstruse Anschuldigungen und Verfolgungen

Judenfeindliche Vorurteile waren im Volk weit verbreitet und wurden auch durch die Kirche noch geschürt. Die Kirche sah sich selbst als neues von Gott "auserwähltes Volk", das die Juden in dieser Rolle und Mission [Auftrag] gegenüber der (ungläubigen) Welt ablöste. Die Schuld am Tod des Jesus von Nazareth wurde einseitig den Juden statt den eigentlichen Verantwortlichen, den römischen Besatzungsbehörden, angelastet, um das Christentum im Römischen Reich salonfähig zu machen. Die Kirche korrigierte diese Haltung auch nicht, als der römische Staat längst durch die germanischen Reiche abgelöst worden war. Auch die Reformation brachte keine wesentliche Veränderung: Judenfeindliche Aussagen finden sich bei Martin Luther ebenso wie bei den schweizerischen Reformatoren Huldrych Zwingli und Johannes Calvin.

Dabei war das Christentum bis ins 20. Jahrhundert hinein noch mit allerhand vorchristlichen magischen Vorstellungen durchsetzt. Nicht erklärbare Naturereignisse oder Krankheiten wurden entweder der Zauberei von Hexen zugeschrieben oder Minderheiten, insbesondere den Juden angelastet. In solchen Fällen kam es oft zu Ausschreitungen und Massenmorden (Hexen- und Judenverbrennungen). Mit der Pestepidemie von 1348-49 breitete sich auch das Gerücht aus, dass Juden die Brunnen vergiftet hätten. In der Schweiz kam es (wie in allen europäischen Ländern) zu schweren Judenverfolgungen namentlich in der Waadt, in Bern, Zofingen, Zürich und Basel. Abstruse Vorwürfe, Juden hätten Kinder in geheimen religiösen Feiern ermordet, führten zu schweren Ausschreitungen gegen Juden in Bern (1294), Diessenhofen TG, Schaffhausen und Winterthur (1401). (Dabei ist es doch gerade das Verdienst der jüdischen Religion, Menschenopfer schon knapp 1000 Jahre vor Chr. abgeschafft zu haben, während unsere germanischen und keltischen Vorfahren sich von solchen religiösen Verirrungen erst durch die Christianisierung trennten - und zwar eben weil das Christentum diesen Punkt wie fast alle seine Kernaussagen aus dem Judentum übernommen hat!). Die Parallelen zu den Hexenverfolgungen sind sowohl bei den Vorwürfen als auch bei den Gerichtsverfahren und Strafen offensichtlich.

Judenverfolgungen führten zur teilweise mehrfachen Vertreibung oder Flucht der Juden, so aus Basel (1397), Bern (1349, 1392, 1427), Fribourg (1428), Genf (1490), Luzern (1384), Zürich (1349, 1423, 1436). Europaweit führten regionale Judenverfolgungen besonders im 15. und 16. Jahrhundert zur Auswanderung vieler Juden nach Polen und Russland. "In der frühen Neuzeit waren Juden -- mit Ausnahme jüd. Ärzte z.B. in Freiburg und St. Gallen -- auf heute schweiz. Gebiet nur im Fürstbistum Basel sowie in den gemeineidg. Herrschaften Thurgau, Rheintal und Grafschaft Baden längerfristig geduldet. Die eidg. Orte erliessen Niederlassungs-, Handels-, Transport- oder gar Betretensverbote (z.B. Zürich 1634). 1737 schränkte die eidg. Tagsatzung das Niederlassungsrecht auf die Grafschaft Baden, fakt. die beiden Dörfer Endingen und Lengnau, ein. Kurzfristige Aufenthalte waren jüd. Händlern nur an Märkten und Messen (z.B. Zurzach) erlaubt. Nur im damals savoyischen Carouge (GE) bestand Ende des 18. Jh. eine jüdische Gemeinde." (Knoch-Mund Gaby, Antisemitismus)



^ Zum Beginn

Neuzeit: Judenemanzipation

^ Juden in Europa

Die Philosophie der Aufklärung im 18. Jahrhundert bahnte den Weg zu mehr Toleranz [Duldung anderer Meinungen und Bräuche]. In der Schweiz brachte die Helvetik 1798 für die Juden rechtliche Verbesserungen, u.a. die Aufhebung von Sondersteuern und die Stellung als niedergelassene Fremde, aber noch keine Bürgerrechte. Bereits die abgeschwächte Mediationsverfassung von 1803 und noch mehr die Restauration machten die meisten Fortschritte wieder rückgängig (1802 Plünderungen in den von Juden bewohnten Gemeinden Endingen AG und Lengnau AG, 1803 Hausierverbot im Aargau, 1809 aargauisches Judengesetz).

Die durch die Aufklärung und die "Virginia Bill of Rights" (1776, Verfassung des US-Bundesstaates Virgina als Vorläuferin der US-Verfassung von 1787) vorbereiteten liberalen [freiheitlichen] Ideen setzten sich auf der Ebene der Verfassung und des Rechts auch in Westeuropa nach und nach durch und brachten den Juden mehr Rechte. In der Schweiz verlief dieser Prozess genau wie bei den bürgerlichen Rechten der Landbevölkerung oder im 20. Jahrhundert beim Frauenstimmrecht von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Die Niederlassungsfreiheit wurde den Juden 1841 im Kanton Genf, 1846 im Kanton Bern, aber erst 1866 in der ganzen Schweiz gewährt, und volle Bürgerrechte 1879. Bald waren aber auch wieder Rückschläge zu verzeichnen.



Moderner Antisemitismus

Die Rassentheorie von Gobineau

Joseph Arthur Graf von Gobineau (1816-1883, französicher Schriftsteller und Diplomat) folgte einem Trend des 19. Jahrhunderts zur Sprachforschung (vgl. die Arbeiten der Brüder Grimm: Wörterbücher und Märchensammlung). So weit so gut. Allerdings ging er dann einen folgenschweren Schritt weiter und übertrug den aus der Tier- und Pflanzenzucht bekannten Begriff der Rasse auf Gruppen von menschlichen Völkern, die ähnliche Sprachen sprechen. In seinem "Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen" (4 Bände 1853-59) behauptete Gobineau, dass es abgesehen von rein äusserlichen Merkmalen wie Haut- Augen- und Haarfarbe, auch Unterschiede in Charakter und Fähigkeiten gebe, die für ganze Gruppen von Völkern vererbbar seien. Insbesondere sei die "arische Rasse" [arisch = eine der Sprachfamilien] den anderen körperlich, geistig und moralisch überlegen. Damit war der moderne Rassismus [Geisteshaltung, die andere Menschen rein aufgrund ihrer Abstammung als minderwertig bezeichnet] geboren. Wozu die rassistische Geisteshaltung in letzter Konsequenz führt, sieht man bei der Massenvernichtung von 6 Millionen Juden durch die Nationalsozialisten ebenso wie bei der beinahe vollständigen Ausrottung der nordamerikanischen Ureinwohner durch die europäischen Einwanderer (vgl. zu letzterer: Foreman Grant, Indian Removal, Norman: University of Oklahoma Press, 11932, 101986).

Der Sozialdarwinismus

Der englische Biologe Charles Darwin veröffentlichte 1859 seine Untersuchung "Über den Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtwahl" (Evolutionstheorie). Er beobachtete, dass Lebewesen mehr Nachkommen haben, als überleben können und dass es innerhalb einer Tier- oder Pflanzenart immer wieder kleine Unterschiede gibt, die zumindest teilweise vererbbar sind (was der Mensch bei der Tier- und Pflanzenzucht gezielt ausnutzt). Daraus schloss er, dass in der Natur diejenigen Tiere überleben und sich weiter fortpflanzen, deren Erbgut besonders gut an die Bedingungen der Umwelt angepasst ist. So würden durch laufende kleine Anpassungen nach und nach neue Arten entstehen (Evolution [lateinisch = Entwicklung, Entfaltung]). Eine Erklärung, wie die Unterschiede entstehen, fand er aber nicht. 1871 übertrug Charles Darwin den Evolutionsgedanken auch auf die Entstehung der Menschen (Abstammung der Menschen von den Affen bzw. aus heutiger Sicht von gemeinsamen Vorfahren).

Der Evolutionsgedanke fand im wissenschaftsgläubigen 19. Jahrhundert sofort ungeheuren Anklang und wurde bald schon von anderen Denkern gesellschaftspolitsch umgedeutet und missbraucht (Sozialdarwinismus): Während in der Natur einfach diejenigen Tiere überleben, die am schnellsten vor angreifenden Raubtieren flüchten oder sich am besten gegen sie verteidigen können und es zudem durchaus auch gegenseitige Hilfe innerhalb einer Herde und besonderen Schutz für Jungtiere gibt, übertrugen die Sozialdarwinisten das von Darwin aufgestellte Prinzip survival of the fittest [Überleben der Tüchtigsten] stark simplifiziert [unzulässig vereinfacht] auf die menschliche Gesellschaft und (miss-)deuteten es in bewusster Verkennung dieser Feinheiten als Aufforderung zu einem hemmungslosen Konkurrenzkampf zwischen den Menschen.

Der deutsche Philosoph, Wirtschaftswissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker Karl Eugen Dühring (1833-1921) forderte 1880 die "Ausscheidung der Judenrace aus dem modernen Völkerleben" als das maßgebende Ziel antisemitischer Politik. Für Volkskräfte mit nationalem Bewußtsein sei es unmöglich, mit Juden auf demselben Boden zusammenzuleben. "Das Wohin ist die eigene Sache der Juden". (Albert Lichtblau: Macht und Tradition, Von der Judenfeindschaft zum modernen Antisemitismus www.sbg.ac.at/ges/people/lichtblau/macht.html)

Paul Anton de Lagarde (1827-1891), deutscher Orientalist und Philosoph, trat für eine Trennung von Staat und Kirche und die Bildung einer "nat. Kirche" ein. Viele seiner nur unzureichend verstandenen Gedanken (v.a. über das Judentum) spielten im Nationalsozialismus eine grosse Rolle.

Der Philosoph Houston Stewart Chamberlain (1855-1927, nicht näher mit dem britischen Premierminister Ch. verwandt, Verehrer und Schwiegersohn des Komponisten Richard Wagner, ab 1916 deutscher Staatsbürger) verschmolz in seinem Hauptwerk "Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" (1899) Gobineaus Antisemitismus mit allerlei unverdauten pseudowissenschaftlichen Brocken zu einer völkisch-mystischen Ideologie.

Noch einmal sei hier auf zwei interessante Parallelen zum Hexenwahn hingewiesen:
1. Der Hexenwahn nahm im Übergang vom Spätmittelalter zur Renaissance (einer Epoche, die im Zeichen der Vernunft und der kulturellen Öffnung stand) nicht etwa ab, sondern wurde sogar noch gesteigert. Dasselbe lässt sich für den Antisemitismus im 19. Jahrhundert (dem Übergang von der feudalen zur freiheitlich - demokratischen Staatsordnung) sagen. Dem Gewinn an Rechten stand ein noch stärkeres Anwachsen der antijüdischen Hetze gegenüber.
2. Beim Hexenwahn betrieben Theologen spekulative Philosophie [sponnen Gedanken weiter, ohne sie an der Wirklichkeit zu überprüfen], und argumentierten dabei scheinbar rational [vernünftig, nämlich nach den Regeln der formalen Logik] - allerdings ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, dass das ganze Gedankengebäude auf haltlosen Vorurteilen aufgebaut und damit völlig abstrus war. Auch hier die verblüffende Parallele zum Antisemitismus und Rassismus des 19. Jahrhunderts: Die gedanklichen Klimmzüge von J. A. v. Gobineau, K. E. Dühring, H. St. Chamberlain & Co. füllten ganze Bücher und sie bezogen sich ganz bewusst auf Erkenntnisse der modernen Sprachwissenschaft und Evolutionslehre - aber dass diese Wissenschaften wenig mit Ethik [Lehre von den Regeln menschlichen Handelns und ihrer Begründung] zu tun haben und sich deshalb auch nicht als Grundlage für seriöse Überlegungen zum Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen kulturellen Wurzeln eignen, blendeten sie bewusst aus: Pseudowissenschaftlichkeit in Reinkultur.

Als eigentliche Ursache für den modernen Rassismus des 19. Jahrhunderts muss man wohl den europäischen Kolonialismus nennen: Die Unterwerfung von Völkern auf anderen Kontinenten stand in offensichtlichem Widerspruch zu den freiheitlichen Idealen der Aufklärung (Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit). Zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung musste eine (pseudo-)wissenschaftliche Begründung gefunden werden. Der Antisemitismus als spezielle Form des Rassismus diente in Europa selbst der Abwehr der Gleichberechtigung für die Juden.

Dass Rassismus und Antisemitismus auf der Basis der Ideen von Gobineau in Grossbritannien keine so grosse Verbreitung gefunden hat wie im übrigen Europa ist nun leicht verständlich: Die von Gobineau behauptete Überlegenheit der Arier war zur Rechtfertigung britischer Herrschaft in Indien denkbar ungeeignet, da die dortige Oberschicht ja ebenfalls zur arischen Völkerfamilie zählt! In den USA wiederum konzentrierte sich der Rassismus einerseits auf die Diskriminierung der indianischen Ureinwohner und die afrikanischen Sklaven, andererseits stiess im Wilden Westen und in den noch sehr landwirtschaftlich geprägten Südstaaten im 19. Jahrhundert das pseudowissenschaftliche Etikett der Rassentheorien auf wenig Interesse.



Der Zionismus als jüdische Reaktion

Nach Pogromen [russisch: meist durch staatliche Stellen angestiftete, aber von der Bevölkerung durchgeführte Plünderungen und Morde] in Russland 1881/82 forderte der Arzt Leo Pinsker in der Schrift "Autoemanzipation" (1882) eine Heimat für die Juden. In Frankreich wurde 1894 der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus wegen angeblicher Spionage verurteilt. Der skandalöse Prozess warf ein grelles Licht auf die judenfeindlichen Vorurteile, die noch immer weit verbreitet waren. Der österreichische Jude Theodor Herzl arbeitete in Paris als Journalist und forderte als Abhilfe gegen die Diskriminierung einen eigenen Staat für die Juden - und zwar in Palästina. Mit seinem Buch "Der Judenstaat" wurde er zum Begründer des Zionismus [jüdische Bewegung für einen eigenen Staat mit Zentrum "Zion" = heiliger Berg in Jerusalem, der Hauptstadt des antiken Israel]. Die Bewegung der Zionisten formierte sich 1897 an einem von Herzl in Basel organisierten Kongress.



Moderner Antisemitismus in der Schweiz

"Die Schweiz kannte dieselben Probleme wie andere Gesellschaften der westlichen Welt auch. Antisemitische Einstellungen waren mehr oder weniger verbreitet in Kreisen der politischen Klasse, der Verwaltung, der Armee und der Kirchen: eine judenfeindliche Einstellung, die sich vor allem verbal und zumeist gewaltlos äusserte und die um so gefährlicher war, als sich die Bevölkerung kaum ein Gewissen daraus machte. Der Antisemitismus war in der Schweiz bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts feststellbar; ab 1900 richtete er sich vor allem gegen die Zuwanderung von Juden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte auch eine gegen Roma, Sinti und Jenische gerichtete Diskriminierung ein, die ebenso einem tiefverwurzelten Misstrauen gegen die Kultur der Fahrenden wie auch eugenischen und bevölkerungspolitischen Konzepten geschuldet war." (
Unabhängige Expertenkommission, Schlussbericht, S. 521)



Versuch einer Deutung

Da der Antisemitismus in allen Kulturen vorkommt, in denen Juden als Minderheit leben, also nicht nur in "christlichen" Ländern, muss man davon ausgehen, dass nicht die religiösen Spannungen zwischen Juden und Christen für den Antisemitismus ausschlaggebend sind. Sie können aber zur Erklärung (nicht: Entschuldigung!) dafür herangezogen werden, dass der Antisemitismus in Europa während zwei Jahrtausenden besonders ausgeprägt war.

Betrachtet man die Zeiten, in denen der Antisemitismus besonders stark war, so fallen folgende Umstände auf:

Hier muss nun an die Rolle der Religion in der Gesellschaft erinnert werden. Von den einfachsten Gesellschaften vor Tausenden von Jahren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war die Religion - mit wenigen Ausnahmen in enger Zusammenarbeit mit dem Staat - wichtigste, wenn nicht alleinige Vermittlerin von Recht und Moral. Sie war ursprünglich auch dafür besorgt, Verstösse gegen das Recht zu sanktionieren [bestrafen]. Man beachte den Wortstamm sankt = heilig! Selbst heute, wo kaum noch jemand regelmässig zur Kirche geht, schickt eine grosse Mehrheit der Eltern ihre Kinder mit grosser Selbstverständlichkeit in den Religionsunterricht. Sie erwarten dabei nicht etwa, dass die Kinder etwas über Kunstgeschichte lernen (das könnte man in Europas Kirchen ja auch), sondern dass sie "Moral" vermittelt bekommen.

  • Die Religionswissenschaft hat aufgezeigt, dass in einfachen Kulturen von Ureinwohnern die Zugehörigkeit zu einem Stamm und zu dessen Religion (Stammesreligion!) fast deckungsgleich sind. Recht und Ordnung werden durch Tabus [religiös begründete Verbote] und religiös organisierte Buss-Systeme gewährleistet. Geringfügige Verstösse werden mit kleinen Opfern geahndet, schwere mit der Todesstrafe oder der Verstossung aus der Stammesgemeinschaft (was praktisch auf dasselbe hinaus läuft, da ein Überleben ausserhalb der Stammesgemeinschaft kaum möglich ist). Bei der Rechts-Setzung und Rechts-Sprechung haben religiöse Führer immer ein gewichtiges Wort. (Selbst in der modernen Parkbusse steckt noch ein altes Wort aus der religiösen Sprache!)
  • Auch in den komplizierteren Gesellschaften der Antike blieb die Verbindung von Recht und Religion, ebenso wie von Religion und Staat fast durchwegs erhalten, eigentliche Staatsreligionen mit religiöser Verehrung des Königs bzw. Kaisers waren eher die Regel als die Ausnahme. Die ersten Christen wurden im römischen Reich genauso wie die Juden blutig verfolgt, weil sie religiöse Überzeugung und Bürgerpflicht trennen wollten und sich dem Kaiserkult verweigerten.
  • Das Mittelalter brachte zunächst die Christianisierung der germanischen und keltischen Stämme - und zwar stark gefördert von den Herrschern, die den Grundsatz "ein Reich, ein König, eine Religion" vertraten und einsahen, dass sich die alten religiösen Vorstellungen der Germanen und Kelten auf die Dauer gegenüber dem Christentum nicht würden behaupten können. Im Hochmittelalter kam es dann in mehreren Ländern Europas, besonders ausgeprägt im Deutschen Reich, zu Spannungen zwischen König und Papst und damit zu einer gewissen Trennung von Kirche und Staat. Trotzdem wurde bis in die Neuzeit hinein die Herrschaft der Könige immer noch durch Berufung auf Gott legitimiert [gerechtfertigt].
  • Die Reformation drohte das religiöse Fundament des Staates zu erschüttern - was in allen europäischen Staaten sofort zu Reaktionen des Staates führte: Das zentralistisch regierte Frankreich verfolgte die Reformierten (Hugenotten) blutig und zwang sie zur Flucht in die Schweiz. In Deutschland setzten die Fürsten das Prinzip "cuius regio, eius religio" [wessen Herrschaft, dessen Religion] durch. Dies galt ebenso für die alten Kantone der Schweiz mit Ausnahme der "Gemeinen Herrschaften" [von den 13 Orten der Alten Eidgenossenschaft gemeinsam verwaltete Untertanengebiete, z.B. Thurgau und Teile des Aargaus]. In Grossbritannien wurde die Anglikanische Staatskirche gegründet. Religiöse Abweichler (Christen anderer Konfession als der staatlich vorgeschriebenen) wurden verfolgt und zur Auswanderung (vorwiegend in die USA) gedrängt.
  • Selbst heute lernen die Kinder die 10 Gebote aus der Bibel auswendig - die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" der UNO (1948) oder die "Grundrechte, Bürgerrechte und Sozialziele" der Bundesverfassung werden dagegen bestenfalls kurz erwähnt, aber leider nur selten gründlich zur Kenntnis genommen. Die Religion hat also noch heute gesellschaftsbildende Funktion.

Ich denke, dass damit klar geworden ist, wie eng auch in Europa bis in die jüngste Vergangenheit hinein der gesellschaftliche Zusammenhalt mit gemeinsamen religiösen Überzeugungen verknüpft war. Dort wo dies nicht möglich war, in den USA (dem grossen "melting pot" [Schmelztiegel] von Personen aus verschiedenen Völkern, Kulturen und Religionen), bildete sich interessanterweise eine so genannte Zivilreligion heraus, die staatliche Einheit schafft, indem staatliche Symbole (Flagge, nationale Gedenkstätten) religiöse Verehrung geniessen und Rituale wie allmorgendliches Schulgebet mit "pledge of allegiance" [Treueeid zum Staat] schon die Kinder darauf verpflichten. (Details dazu sind bei Hase Thomas, Zivilreligion, Würzburg 2001 sehr anschaulich beschrieben) Ähnliches ist in abgeschwächter Form im 19. und 20. Jahrhundert in der Schweiz zu beobachten, wo mit dem Übergang von Staat = Kanton zu Staat = Bundesstaat und der zunehmenden Durchmischung von Katholiken und Reformierten die religiöse Verankerung der staatlichen Einheit zunächst auf schwachen Füssen ruhte. Die äussere Bedrohung durch Nazi-Deutschland vor und während des Zweiten Weltkrieges liess dann aber in der Geistigen Landesverteidigung eine deutlich zivilreligiös geprägte und von breitesten Bevölkerungskreisen getragene Grundeinstellung zur schweizerischen Nation entstehen.

Wenn eine einheitliche Religion den emotionalen [gefühlsmässigen] Rahmen für den Zusammenhalt eines Volkes darstellt - und dafür sind ja gerade die Juden selbst das beste Beispiel - dann ist es auch verständlich (aber nicht akzeptierbar!), dass eine Gruppe von Personen, die sich durch Religion, Bräuche und Sitten ausserhalb der gesellschaftlichen Normen bewegt, schnell einmal als verdächtig und staatspolitisch unzuverlässig gilt. In Zeiten der Krise kommt aber bald die Losung "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns" auf (vgl. die Reden US-Präsident Bush nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center vom 11.9.2001). Dann ist der Weg zur offenen Feindseligkeit nicht mehr weit. Solange in Europa der gesellschaftliche Zusammenhalt letztlich unter Berufung auf die Tradition des "Christlichen Abendlandes" herzustellen versucht wird, bleiben auch hier fest verwurzelte Personen mit anderer Religion immer irgendwie "aussen vor".

Was könnte gegen Antisemitismus helfen?

Wenn die eingangs erwähnten Wurzeln des Antisemitismus (Angst vor gesellschaftlichem Wandel, sozialem Abstieg und Verlust von Sinn und Ordnung, "religiöser Kitt" für den Staat) einigermassen richtig erkannt sind, dann müsste ihm eigentlich auch der Nährboden entzogen werden, wenn die tatsächlichen Ursachen der Angst beseitigt und eine neue (nicht im engeren Sinn religiöse) Basis für das Zusammengehörigkeitsgefühl geschaffen wird:

In einer modernen Demokratie trägt jede und jeder Einzelne dafür Mitverantwortung - bei der öffentlichen Meinungsbildung in der Schule, am Arbeitsplatz, im Verein, am Stammtisch oder beim Kaffeekränzchen und last but not least [zuletzt, aber nicht am unwichtigsten] bei Wahlen und Abstimmungen. (vgl. Art. 6 der Bundesverfassung)


Quellen / weiterführende Literatur und Links:
© 2003 Markus Jud, Luzern Letztes Update: 25.1.2003
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